Wie begreifen, was nicht mehr ist?

Wie jemanden erklären, was war? Auf den Spuren einer verschwundenen Ausstellung.

Markus Hopf, GELNHAUSEN, 19.3.2011

Wer die Marienkirche in Gelnhausen in den vergangenen neun Wochen betreten hat, sah das Kirchenschiff bevölkert von stummen Passagieren, kauernd, liegend, gehend, suchend. Installiert hat die vornehmlich aus Filzwolle bestehenden Objekte die Dörnigheimer Künstlerin Ulrike Streck-Plath. In der Ausstellung „wie lange haben wir gebeten“ hat sie Flucht und Vertreibung thematisiert. „Was mich bewegt, sind die ewigen Themen Leben und Tod, Geborgenheit versus Leid in der langen Geschichte der Menschheit, die immer auch unsere eigene Geschichte ist, schreibt die Maintalerin in einem Begleitheft. Die Gelnhäuser Marienkirche schafft unter ihren hohen Kuppeln und zwischen dicken Sandsteinmauern den Resonanzraum für Gedanken und Gefühle, für Erinnerungen und Impulse zu dieser Geschichte.

„Der zerbrechliche Filz über den Stöcken – Sinnbild für den Schmerz und die Tränen auf der Flucht. Beeindruckend in aller Schlichtheit“, schreibt eine Besucherin in ein Büchlein, das für Kommentare bereit liegt. Sie be-schreibt damit die Installation „perpetua – Auf der Flucht“, die quasi das Herzstück der Ausstellung bildet: Eine Gruppe von Erwachsenen und Kindern, fast gesichtslos, steht still und symbolisiert doch Bewegung in höchster Not. „Gespenster“, schreibt ein anderer Besucher, „Geistwesen“. Frauen, die ihre Kinder in den Armen bergen, kontrastieren mit Mutter Erde, der ein Loch in den Leib gebrannt ist. In einer Nische des Gemäuers werden Mutter und Kind, auf einem Floß aus Haselzweigen ruhend, von dem durchs Kirchenfenster einfallende Märzlicht mystisch beleuchtet. Über der Szenerie schwebt „Christus“, nicht einmal ein Torso, ein Gebein, ein Knochen, wie abgenagt. „Die Installation reicht – allein aufgrund der archaischen Abstraktion der lebensgroßen Figuren und der reduzierten Gesichtszüge – weit in die Vergangenheit bis in die Frühzeit der Menschengeschichte“, formulierte Pfarrer Volkmar Hundhausen bei der Vernissage am 15. Januar.

Für „perpetua“ wie auch für viele weitere Exponate hat sich Ulrike Streck-Plath überwiegend von historischen Quellen aus dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte inspirieren lassen. „Vor der Auslöschung“ heißt ein Wandteppich, der aus vielen Einzelbildern menschlicher Gesichter zusammengesetzt ist und während der Ausstellung immer weiter ergänzt wurde. Als Vorlage diente ein Fund von 2400 Fotografien, die in einem Koffer des Konzentrationslagers Auschwitz gefunden wurden. Den Titel „Was Lena Krawtschenko, 7 Jahre, 1941 bei Minsk gesehen hat“ trägt eine andere großflächige Filzzeichnung, die auf dem Sandsteinboden der Marienkirche mehr auf- als zudeckt. Und natürlich steigen beim Anblick der vielen „flüchtigen“ Figuren gerade in diesen Tagen sofort auch die Bilder aus Japan vor dem geistigen Auge auf. „Ich denke an alle Menschen, die ihre Heimat verloren haben – durch Kriege, Vertreibung, Katastrophen“, notiert ein weiterer Besucher ins Buch der Assoziationen.

Ob es das alleine neben dem Altar kauernde Kind ist, oder die fast ungesehen in der Sakristei fliehende Gestalt ist – überall, wo Menschen Unaussprechliches widerfährt, erwecken Leid und Einsamkeit den Wunsch nach Geborgenheit und einem sicheren Platz. Gibt es diesen Platz? Bewegt man sich in der Kirche gegen den Uhrzeigersinn, quasi rückwärts in der Zeit, landet man bei „Delivery“, einem fast kaum sichtbar im Zwielicht verborgenen Embryo im Körbchen. Das Wort Delivery spielt mit der Bedeutung von Entbindung einerseits, diesem Moment intensivster neuer Hoffnung und neuem Leben bei gleichzeitiger völliger Schuztlosigkeit und Erlösung andererseits, die gerade auch die Erlösung vom Leben bedeuten könnte durch Kräfte, die für uns nicht kontrollierbar sind.

„Wie lange haben wir gebeten um den Frieden hier“ schreibt der Nürnberger Organist Erasmus Kindermann in einem Kirchenlied von 1648, das der Ausstellung den Namen gegeben hat. Sie haben den Frieden gesucht und suchen ihn vielleicht weiter, die Fliehenden und Gepeinigten, die in der vergangenen Woche noch da waren und nun plötzlich verschwunden sind, ausgelöscht.