Wie lange haben wir gebeten

Volkmar Hundhausen anlässlich der Vernissage zur gleichnamigen Ausstellung in der Marienkirche Gelnhausen, 15. Januar 2011

Vor wenigen Tagen haben wir das Weihnachtsfest gefeiert, der Einzelhandel ist zufrieden, rund 77 Milliarden Euro wurden umgesetzt. Und auch die Kirchen waren gut besucht. Wie in vielen Wohnstuben waren auch in den Kirchen beschauliche Weihnachtskrippen aufgebaut und in wohltemperierter Umgebung fanden besinnliche Krippenspiele statt. Schöne Spiele. Ich habe zwei solcher Spiele miterlebt. Eine große propere Babypuppe stellte jedesmal das neugeborene Kind dar. Stallgeruch habe ich nicht wahrgenommen.

Das Lumpenkind

Und nun sind wir hier in der Marienkirche und sehen die Darstellung eines neugeborenen Kindes, das nur notdürftig mit Lumpen bedeckt ist, auf den Lumpen der Judenstern. Das Lumpenkind. Die Arbeit nimmt Bezug auf die Hoffnung jüdischer Mütter, die im Konzentrationslager Auschwitz ihre Kinder zur Welt bringen mußten. Sie hofften auf ein menschliches Erbarmen für das Leben ihrer Kinder in der Kleiderkammer des Lagers.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen vor diesem Kunstwerk ergeht. Ich will sagen, wie es mir davor ergangen ist und immer wieder ergeht. Noch nie habe ich die Botschaft so deutlich gehört – ja gehört – für die der Evangelist Lukas in seiner Geschichte von der Geburt des Jesus die Engel auftreten läßt, weil doch kein Mensch das sagen würde: Euch ist heute der Heiland geboren, da liegt das Heil der Welt. Fürchtet euch nicht, ihm zu helfen.

Und indem es diesem Kunstwerk der Frau Streck-Plath gelingt, die ermordeten Kinder aus der Kleiderkammer von Auschwitz in uns auferstehen zu lassen zu ewigem Leben, wird ja nicht nur ein Spannungsbogen in die Vergangenheit hergestellt, der bis ins Römerreich und darin bis zur Krippe in Bethlehem reicht, in der ein namenloses Kind lag, weil sonst kein Platz für es da war. Dieser Spannungsbogen reicht doch auch und gerade in die globalen Machtsysteme unserer Gegenwart, die so viele Menschen täglich an den Folgen von Hunger sterben lassen.

Jüdische Mutter und ihr Kind

Auf ganz andere Weise ist dieser Konflikt übrigens auf einem der mittelalterlichen Altarbilder der Marienkirche dargestellt, indem das Jesuskind nackt und auf dem Steinboden liegend dargestellt wird, umgeben von einer überaus üppig gekleideten und reich dargestellten Gesellschaft.

Auch die Maria ist dieser Gesellschaft zugeordnet, reich gekleidet und geschmückt und im Tympanon des Südportals der Kirche vertritt sie gar die machtbesessene  Oberschicht der mittelalterlichen Gesellschaft. Und nun hängt da dieses Triptychon „jüdische Mutter und ihr Kind“, ein Triptychon, das das Leid tausender Mütter in den Konzentrationslagern erinnert, ein Marientriptychon, das dieser Kirche und dieser Stadt Gelnhausen würdig wäre, die sich 1938 rühmte, judenfrei zu sein.

Da sehen wir zunächst die Maria mit dem neugeborenen Jesus auf den Armen, eine hoffnungsvolle und kraftvolle Einheit, die Gewaltigen vom Thron zu stoßen und die Niedrigen zu erheben, die Hungrigen mit Gütern zu füllen und die Reichen leer ausgehen zu lassen. Dann die Maria, die ihren zwölfjährigen Sohn mit Schmerzen gesucht und im Tempel wieder gefunden hat, wo alle, die ihm zuhörten, verblüfft waren über seinen Verstand und seine Einsichten, die eine Entwicklung zu erkennen geben, die der Mutter Sorgen bereitet, die schließlich im dritten Bild bestätigt werden, der Pieta, da hält  Maria, die mater dolorosa ihren ermordeten Sohn fest in den Armen.

Christus

Und dann diese Christusdarstellung, der doch alles Gefällige abgeht. Wie der Profet Jesaja ahnte:  daß sich viele über ihn entsetzen. Weil seine Gestalt häßlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte, darum haben wir ihn für nichts geachtet. Wir hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert ist.

Für den Kern dieser plastischen Arbeit  hat Frau Streck-Plath zufällig gefundenes Treibholz genommen. Treibholz. Da müssen wir innehalten und den Geist wahrnehmen, der weht wo er will. Jesus, der vom wehenden Geist Getriebene, der vom Willen Gottes Getriebene. Doch nicht derart, daß sein Schicksal dem Willen Gottes entspricht, nein. Sondern getrieben  vom Glück für die Armen und vom Trost für die Leidtragenden, getrieben von der Sanftmut und dem Hunger nach Gerechtigkeit und also getrieben von der Barmherzigkeit, getrieben vom Frieden, der angefertigt werden muß. Während  die Menschen ihn schmähen und Übles gegen ihn reden. Getrieben in einer langen Geschichte, in der es den Propheten nicht anders erging als dem Jesus. Und diese Geschichte ist noch lange nicht zu Ende.

Die sich den Jesus als Christus zum guten Vorbild nehmen in der weiterlaufenden Geschichte, denen wird es nicht viel anders ergehen als den Propheten vor Jesus und oft genug wie ihm. Was ich so wahrnehme, dieser Christus hat – das ist auffällig, ganz anders als etwa die Darstellung des Gekreuzigten über dem Lettner hier in der Kirche – eine tödlich verletzte weiße Haut. Weiß, die Farbe der Unschuld. Aber es ist nicht nur die weiße Farbe. Es ist die Konsistenz dieser Farbe, ein dichter Filz aus weißer Schafwolle.

Es war der Evangelist Johannes, der die alttestamentlich-jüdische Theorie des geschlachteten Opferlammes auf den lebenden Jesus übertragen hat, beziehungsweise umgekehrt, der das Vorbildhafte, das Vorbildliche des Jesus, seine Gewaltlosigkeit und seine Feindesliebe mittels des Verhaltens eines Schafes, das vor seinem Scherer verstummt oder gar zur Schlachtbank geführt wird, deutet. Seither symbolisiert das Schaf unser Vorbild Jesus. Die Sache ist übrigens ambivalent, wir kennen doch die spöttisch verächtliche Rede vom Schafskopf. Mir sagte ein Jugendlicher: wenn wir uns den Jesus zum Vorbild nehmen, dann kommen wir zu nichts.

Was dem ein oder anderen vielleicht auffällt: Frau Streck-Plath hat die Christus-Skulptur nicht an ein Kreuz, dieses Marterwerkzeug der Macht, gehängt, das in unseren Kirchen irrigerweise zum identitätsstiftenden Symbolzeichen avancieren konnte. Hier verstehe ich unmißverständlich, worauf es ankommt: Auf das Vorbild Jesus Christus. Nicht auf das Kreuz. Was wir wohl sehen: Der Schrecken des Kreuzes, der ist dem Christus ins Gesicht geschrieben.

Selektion

Im großen Weltgerichtsgleichnis des Matthäusevangeliums identifiziert sich dieser Christus mit all den Menschen, die Hunger haben und Durst, mit allen Fremdlingen und Bloßgestellten, mit allen Kranken und unfreien Menschen und sagt zu denen, die es zu was gebracht haben: Was ihr diesen meinen geringsten Geschwistern getan habt oder nicht getan habt, das habt ihr mir   getan oder mir nicht getan.

Diese Rede kam mir in den Sinn, als ich mich mit dem Triptychon Selektion befaßte. Den Anstoß zu diesem Bild lieferte eine Fotografie, die Frau Streck-Plath schon als Kind beschäftigt hat und die immer wieder Anlaß gab, nach der eigenen Verwurzelung in der Großelterngeneration zu fragen, die in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur gelebt hat.

Was haben die Vorfahren erlebt und verschwiegen? Welch unerträgliches Erleben haben sie versucht zu vergessen oder zu verbergen? Ja versucht. Denn das Erlebte verschwindet nicht. Über Generationen hin schafft es sich ein Gedächtnis. Das Bild zeigt eine Gruppe von 37 Menschen, Erwachse, Jugendliche, Kinder und Säuglinge, die auf der Rampe des Konzentrationslagers Auschwitz Birkenau selektiert und anschließend in einer Gaskammer ermordet wurden.

Allen steht der Schrecken der mörderischen Macht wie ein Brandmal ins Gesicht geschrieben, wie wir das schon bei der Christusskulptur wahrgenommen haben. Mit allen hat sich unser Vorbild Christus identifiziert und provoziert so unsere Solidarität, zunächst die Solidarität der Künstlerin Ulrike Streck-Plath, deren Kunstwerk in unserem Gedächtnis ein Mit-Christus-Sein, eine Rehabilitation der Selektierten, eine Auferstehung der Ermordeten ins weitergehende Leben bewirken will.

Vor der Auslöschung

Nach der Befreiung des Lagers Auschwitz fand man in einem Koffer über 2400 Fotografien, die den Selektierten, es waren Juden aus zwei polnischen Städten, abgenommen wurden, bevor sie in die Gaskammer gezwungen wurden.

Frau Streck Plath arbeitet an einem großen zusammenhängenden Bilderwerk vor der Auslöschung. Es hängt hier an der Südwand. Während der Ausstellung wird das Bilderwerk noch weiter wachsen.  Jedes einzelne Bildelement bezieht sich auf ein Foto aus dem Koffer. Es sind zufällige Fragmente individueller Lebensgeschichten,  die es ermöglichen, in uns ein Gefühl für die Dimension des Mordens im deutschen Namen entstehen zu lassen, gleichzeitig vermittelt diese Arbeit in jedem von uns – nicht ohne ratlose Beklemmung – so etwas wie eine  Gedächtniskultur gegen das Vergessen und eine Gesprächskultur gegen das Verschweigen.

Perpetua – auf der Flucht

Der Selektion auf der Rampe in Auschwitz waren auch jüdische Menschen, die hier in Gelnhausen bis zum Jahre 1938 lebten, ausgeliefert. Wie viele Millionen Menschen in ganz Europa waren sie aus der jeweils örtlichen Gesellschaft ausgegrenzt und systematisch verhetzt und vertrieben worden, viele von ihnen flohen und wurden auf der Flucht verfolgt, eingefangen und abtransportiert zur Ermordung. Und vor den deutschen Armeen, solange sie siegreich waren im 2. Weltkrieg,  flohen die Menschen in den besetzten Ländern.

Als sie nicht mehr siegreich waren, mußte die deutsche Bevölkerung fliehen, jetzt wurde sie vertrieben. Krieg, Vertreibung aus ethnischen oder religiösen Gründen und also Flucht vor Verfolgung und Folter, vor Hunger und  Vergewaltigung und vor drohender Ermordung prägen die Menschengeschichte, soweit man sie zurückverfolgen kann. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Das gilt weltweit. Das und wie wir als Menschen darin aktiv oder passiv verwickelt und verstrickt sind, verschweigen und verdrängen wir gerne.

Frau Streck-Plath hat darum die große Installation „Perpetua – auf der Flucht“ geschaffen. Den Anstoß dazu gaben wohl gefundene Bilder aus der Zeit des 2. Weltkriegszeit  und der Nachkriegszeit, aber die Installation reicht – allein aufgrund der archaischen Abstraktion der lebensgroßen Figuren und der reduzierten Gesichtszüge – weit in die Vergangenheit bis in die Frühzeit der Menschengeschichte. Und gleichzeitig ist die Installation in unserer Gegenwart hochaktuell. Es sind wohl mehr als 43 Millionen Menschen derzeit auf der Flucht. Unter uns leben viele Menschen, die davon betroffen sind. Perpetua, das ist übrigens ein schöner Mädchenname, er bedeutet: die Beständige. Eine der frühesten Märtyrerinnen der Kirche hieß Perpetua, sie war eine junge Mutter, gerade 22 Jahre alt, die sich taufen ließ und darum in einer Arena wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen wurde. Die Beständige. Perpetua – beständig auf der Flucht.

Wie lange haben wir gebeten

Auf das Versagen der Verantwortungsträger, die es zu was gebracht haben – um den Eingangspsalm noch einmal anklingen zu lassen – auf die schon immer und immer wieder erzwungene Flucht weist ja auch der Titel unserer Ausstellung hin: Wie lange haben wir gebeten.

Der Satz stammt aus einem Kirchenlied, das der Nürnberger Organist Erasmus Kindermann zum Ende des 30jährigen Krieges 1648 geschrieben hat. Der Satz richtet sich an Gott: „Ach Herr, wie lange haben wir gebeten um den Frieden hier; Du hast uns den bescheret zwar und noch erhalten dieses Jahr. Wir danken dir drumb inniglich und bitten herzlich ferner dich, du wollest hindern alle Tück, die ihn zu treiben sucht zurück.“

Von einer Beständigkeit des Friedens, einer pax perpetua, geht der Liedtext nicht aus, das kann auch eine Bitte zu Gott hin nicht bewirken. Gott ist da der falsche Adressat. Die unseren Glauben prägende jüdisch-christliche Tradition, also die geht von nicht hinterfragbaren Geboten aus. Um nur einige zu nennen: Du sollst nicht töten. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Dann: Liebt eure Feinde. Seid solidarisch mit den Menschen, die Hunger haben und Durst, den Fremdlingen und Bloßgestellten, den kranken und unfreien Menschen.

Die Gebote richten sich an uns Menschen. Und nicht an Gott. Wie lange haben wir gebeten – die Adressaten der Bitte können nur wir Menschen selber sein. Nicht ohne Grund haben wir doch in den letzten Wochen von der Menschwerdung Gottes geredet.

Allerdings ist diese Rede äußerst unpräzise, kommt auch so in den biblischen Geschichten nicht vor. Verständlicherweise, denn Herodes und Pilatus und Augustus waren auch Menschen wie Hitler und Stalin und alle anderen Machthaber auch.Den biblischen Geschichten wird eine andere Sprache gerecht:

Gott wird ein Kindlein klein, er liegt dort elend, nackt und bloß. Er äußert sich all seiner Gewalt, wird niedrig und gering und nimmt an sich eines Knechts Gestalt. Mit anderen Worten: Gott ist es, der beständig auf der Flucht ist. Perpetua. Er braucht unsere Hilfe. Das ist die biblische Botschaft, die ich vor diesen Kunstwerken vernehme. Amen.